Dienstag, 2. Dezember 2014


30.10.14
Mein Stammcafé in Neukölln ist ein Backshop. Hier sitze ich, trinke Kaffee aus einem Pappbecher auf dem “Café” steht, schaue den Leuten zu, die rein- und rausgehen: kleine, gebeugte, gebeutelte Gestalten mit traurigen Gesichtern, Mütter mit Kopftüchern und Kinderwägen, Punks, Bärtige, Teenies mit Glitzerjacken und Lederstiefeln, die sich gekühlte Cola in Plastikflaschen kaufen, einen Kaffee, eine Süßigkeit oder einen Moment Ruhe, bevor sie wieder hinaus auf die laute Straße gehen und im Gedränge vor der Ampel verschwinden, alte, orientalische Herren mit Schiebermützen, die stundenlang auf den schmucklosen Bänken sitzen und sich unterhalten, eine winzige, alte Dame mit geblümten Kleid, die freundlich und zahnlos lächelt, dabei dem Kassierer zuwinkt und ihm ein etwas rostiges “auf Wiedersehen” zuruft. Der Kassierer, ein hagerer Mann mit langen Haaren, der seine Augen unter einer roten Schirmmütze versteckt, aber sehr aufmerksam ist, abwechselnd kassiert, die Tische abräumt, Plastiktabletts stapelt und mit einem blauen Schwammtuch säubert, kennt sie schon und grüßt zurück. Drei Mädchen neben mir schwärmen von einer Traumreise nach Neuseeland, ein Typ mit Kopfhörern und polnischem Akzent fragt sie: "Könnt ihr mal mein Laptop bewachen?" und verschwindet aufs Klo. Neukölln, wie es vielleicht war, bevor die Hipster kamen.

Sonntag, 7. September 2014


19.8.14
Unter meinem Fenster an der Ampel steht der Mützenmann. Er taucht oft plötzlich auf, steht dort unten, wartet, schaut vor sich hin, bewegt sein Kinn mit dem strähnigen Bart, als murmele er einige Worte hinein. Er trägt selbst im Hochsommer einen dicken Anorak, Militärhosen mit schweren Schuhen und eine russische Fellmütze. Scheinbar wartet er darauf, dass die Ampel auf Grün schaltet, doch das ist ein Irrtum. Die Ampel schaltet um, er geht nicht. Er bleibt weiter dort stehen, starrt wieder vor sich hin, dann von links nach rechts, schwankt leicht, so als sei er unentschlossen. Die Ampel schaltet wieder auf Rot. Er steht und wartet. So verharrt er für eine sehr lange Zeit, ohne sich von der Stelle zu rühren. Heute ist es anders: die Ampel schaltet auf Grün, er blickt von links nach rechts und überquert die Straße, verschwindet dann aus meinem Sichtfeld. Ich habe ihn seither nicht wiedergesehen.

Dienstag, 19. August 2014


18.8.14
Ich trete hinaus auf die Straße und schaue auf die Häuserfassaden und den windigen Himmel. Ein leichter, erlösender Sprühregen hebt an, nässt das Pflaster unter meinen Sohlen, verwandelt es in eine blanke, spiegelnde Fläche und beendet den Hochsommer. Die Zeit der Sandalen, kurzen Hosen und Achselhemden geht nun vorbei.
Auf meinem Weg zur U-Bahn kommt mir strammen Schrittes eine Mutter mit wogenden Brüsten und Kinderwagen entgegen. Das Kind sitzt aufrecht im Wagen und trägt einen dicken Helm, dreht den Kopf in meine Richtung. Sie trägt ein pflaumenfarbenes Achselhemd, gegen dessen gerippten Stoff sich ihre Brustwarzen deutlich abzeichnen und lächelt mir entgegen. Ich lächle zurück und gehe schnell an ihr vorbei. Der Regen wird stärker und alle Passanten flüchten sich unter die Bäume. Ich haste über die Straße und suche Schutz im U-Bahnschacht. Wie alle Jahre wieder.

Dienstag, 22. Juli 2014


9.6.14 (2)
Jetzt bin ich unfreiwilliger Besitzer eines Modellflugzeugs. Was mache ich mit dem Ding?
Ich beschließe, es dorthin zu bringen, wo es vermutlich hergekommen ist: zum Flugfeld. Ich klemme es unter den Arm und mache mich auf den Weg.
Die meisten Leute schauen mich amüsiert an, halten mich wohl für ein großes Kind, doch auch die Kinder reagieren, schauen mit großen Augen erst auf mich, dann auf das Flugzeug. Unterwegs passiere ich ein Café, ein Engländer mit Gitarre neben seinem Stuhl, ruft: “Hahaha, drone-attack!” “Yes, something like that” lache ich zurück.
Ich erreiche das Feld. Obwohl es noch recht früh ist, ist es schon sehr heiß, die Hitze flimmert leicht über den Asphalt. Ich gehe die Startbahn entlang. Auch hier niemand zu sehen, der ein Flugzeug vermisst. Ich gehe weiter, es wird heißer und heißer. Schließlich biege ich, um etwas Schatten zu suchen, in einen Seitenweg und begegne einem Vater mit seinem kleinen Sohn an der Hand. Der Kleine reißt die Arme hoch, als er mich sieht und ruft: “Ohhh, Flugzeug!” Ich beuge mich zu ihm und sage: “Möchtest Du es haben? Ich schenke es Dir.” “Brauchen Sie es denn nicht selbst?” fragt mich der Vater. “Es gehört mir garnicht, es ist mir zugeflogen.” Der Vater bedankt sich sehr herzlich, der Sohn strahlt übers ganze Gesicht. “Der Propeller ist etwas beschädigt”, sage ich noch. “Kein Problem, das kann ich kleben”, meint der Vater. Dann machen sie sich auf den Weg. “Auf Wiedersehen”, sage ich und sehe ihnen hinterher.

Mittwoch, 2. Juli 2014


2.7.14
Spruch des Tages. Auf einem großen Berliner Werbeplakat lese ich folgendes: “Ich höre nie auf zu suchen, freue mich aber immer, wenn ich nichts finde.”

Samstag, 28. Juni 2014


27.6.14
Mit vollen Einkaufstüten in den Händen bin ich auf dem Nachhauseweg. Plötzlich vor mir auf dem Bürgersteig eine umgekehrte Schrift, mit gelber Kreide dort hingeschrieben. Ich halte kurz an, drehe den Kopf und lese, was da steht: “Ich will ich sein”. Ein Stückchen weiter kommt die nächste Schrift, wieder halte ich an und lese: “Du drehst Dich um und niemand ist da”. Ich muss lächeln. Nachdem ich die Hauptstraße überquert habe und in eine Seitenstraße einbiege, begegnet mir wieder die gelbe Kreideschrift. Diesmal steht dort: “We want change!”
Streetpoetry in Berlin.

Donnerstag, 26. Juni 2014


26.6.14
Der Mauerpark. Dort liegt er wie ein Denkmal der Neunziger Jahre. Die Wolkendecke lockert etwas auf und die Sonne zeigt sich. Es sind nur wenige Leute unterwegs, einige Radfahrer, eine einsame Raucherin. Auf dem Weg steht eine traurige Gestalt mit schwarzer Mütze, schwarzer abgetragener Jacke und ausgelatschten Turnschuhen. Als ich vorbeigehe, erwarte ich schon die obligatorische Ansprache: “Tschuldigung, haste vielleicht n Bisschen Kleingeld?” aber sie kommt nicht. Stattdessen hebt der traurige Mann nur kurz den Blick und senkt ihn wieder.
Ich gehe ein Stück weiter, unter einer Baumgruppe auf einer Mauer sitzen Mittfünziger und unterhalten sich. Vor zwanzig Jahren, die Zeit nach dem Mauerfall, waren sie in meinem Alter, vielleicht saßen sie damals auch schon hier, ihr halbes Leben noch vor sich. Jetzt haben sie es fast schon hinter sich. Ich gehe noch ein Stück weiter, drehe dann um. Die einsame Raucherin hat jetzt eine Trommel hervorgeholt und schlägt einige Rhythmen, zwei Passanten ruft sie hinterher: “Ihr fresst zuviel!” Ich muss grinsen.
Wieder passiere ich den traurigen Mann. Diesmal fragt er mich nach einer Zigarette. Ich halte an. “Leider Nichtraucher.” Er schaut mich an, seine Augen sind klar, er hat keine Fahne. “Vielleicht n Bisschen Kleingeld?” Seine Frage wirkt mechanisch, so als müsse er sie stellen. Ich schaue ihn an, gebe ihm alles was ich dabeihabe. Er lächelt und schlägt sich mit der Faust auf die linke Brust: “Respekt.” “Bis bald”, sage ich aus irgendeinem Grund. Dann winkt er mir noch. Ich gehe zurück zum Ausgang.

Montag, 9. Juni 2014


9.6.14
Der Tag beginnt mit einer sonderbaren Begebenheit:
Ein lauter Rumms auf meinem Balkon reißt mich etwas unsanft aus dem Schlaf. “Was war das?” fährt es mir durch den Kopf “ist was kaputt gegangen?” Ich springe auf, eile leicht verwirrt zum Balkon. Ein Blumentopf ist umgestürzt, aber erstaunlicherweise nichts kaputt.
Was aber der Lärm verursacht hat, ist wirklich kurios: dort liegt ein weißes Modellflugzeug, Spannweite etwa einen Meter fünzig, rote Flammenschweife sind auf den Tragflächen aufgedruckt. “Wo kommt das denn her?” Ich bin verdutzt, beuge mich über die Reling meines Balkons und spähe hinaus auf die Straße. Niemand zu sehen, der ein Flugzeug vermisst oder mit einer Fernbedienung ziellos umherläuft.
Das Flugzeug macht Geräusche wie ein Vogel: es grient und zirpt, immer wieder in Abständen. Ich beuge mich zu ihm herunter. Die Mechanik funktioniert offenbar noch, denn die Höhenruder gehen sirrend auf und ab. Nur die Vorderseite ist etwas ramponiert, der Propeller dreht sich nicht mehr. Es ist ziemlich windig, also ist es wohl abgetrieben. Aber wer lässt denn bei so einem Wind ein Modellflugzeug steigen? Seltsam, seltsam.
Ich warte und schaue wieder nach unten auf die Straße. So verharre ich einige Minuten. Noch immer scheint niemand das Ding zu vermissen. Hat es der Besitzer schon abgeschrieben?

Freitag, 23. Mai 2014


22.5.14
Ein außergewöhnliches Licht über Tempelhof, die Sonne hat sich schon verabschiedet, doch der Horizont hängt rötlich-orange über der Stadt. Die ersten Sterne sind zu sehen.

Auf dem Feld viele Spaziergänger, weiter hinten steht ein gemischter acapella-Chor im Kreis und singt: „Sweet Dreams“ und „Eye of the Tiger“, eine Menschentraube hat sich um die Singenden gebildet. Ich bleibe kurz stehen, höre von einiger Entfernung zu, gehe dann weiter.

Andere Besucher haben sich ins Gras gelegt, die Arme hinter dem Nacken verschränkt und die Augen nach oben gerichtet. Obwohl die Tore eigentlich schon geschlossen wurden, sind sie noch da. Sie machen keine Anstalten, nach Hause zu gehen, bleiben hier, bis das letzte Licht hinter dem langgestreckten Flughafengebäude verschwunden ist. Vielleicht bleiben sie die ganze Nacht. Ein Liebespaar zieht Arm in Arm an mir vorbei. Über ihren Köpfen dieser unverschämt weite Himmel, der einzigartig ist und nur hier zu existieren scheint.

Auf dem Rückweg entsteht plötzlich ein Stau am Drehkreuz: ein Flaschensammler bleibt mit seinem prall gefüllten Einkaufswagen darin hängen, es geht weder vor noch zurück. Die Leute warten geduldig, einige müssen lachen. Nach einigem Hin und Her kann der Pfandkönig das verkeilte Rad seines Wagens lösen und es geht weiter. Applaus von den Wartenden. Sie setzen sich langsam in Bewegung und wandern hinaus ins Freie. Dann zerstreuen sie sich in den warmen Abend.


Sonntag, 27. April 2014


23.4.14
Ich steige aus der U-Bahn. Endstation. Einige Meter vor mir geht ein Rothaariger, er taumelt hin und her. Vielleicht betrunken? Doch als ich näherkomme, sehe ich den wahren Grund seines Schwankens: Er sucht mit einem langen metallenen Stock den Weg nach draußen. Er ist blind.
Die Kugel am Ende seines Stocks rauscht über den Boden, stößt gegen eine der blaugekachelten Säulen, rauscht wieder zurück, stößt gegen eine zweite Säule. Der Blinde bleibt stehen, er ist verwirrt, desorientiert, er trägt keine dunkle Brille und ich kann seine Augen sehen: sie sind weit aufgerissen und gehen von links nach rechts. Ich beschleunige meinen Schritt, um ihn zu ereichen.
Ein türkischer Mann mit Schnurrbart und kurzen, graumelierten Haaren kommt mir zuvor. “Kann ich ihnen helfen?”, fragt er höflich und bietet dem Blinden seinen rechten Ellenbogen an, den dieser dankend annimmt. “Vorsicht, jetzt kommt eine Treppe”, sagt der Türke mit rollendem R.
Vor mir geht das seltsame Paar die Stufen hoch. “Schaffen Sie den Rest alleine?” fragt der Türke. “Ja”, sagt der Blinde. Doch es stimmt nicht. Draußen an der Ampel geht er beinahe bei Rot über die Straße, einige Passanten rufen ihm zu. Wieder komme ich zu spät: eine kleine Frau mit dunklen Haaren fragt den Blinden, wo er hinmöchte. “Zum Bus.” “Da muss ich auch hin.” Sie führt ihn über die Straße zur Bushaltestelle. Ich schaue ihnen hinterher und biege um die Ecke, da überholt mich ein mittelgroßer Mann mit seinem Skateboard. Er ist etwa fünfzig und hat schon graue Haare, dazu trägt er einen Stoppelbart und schlabbrigen Pullover.
Der älteste Skater, der mir je begegnet ist.

Sonntag, 30. März 2014


20.3.14
Durch Zufall bin ich heute auf eine Musik von früher gestoßen. Sie hat mich damals sehr berührt, weil sie etwas Neues ausdrückte und den Soundtrack zu einem ganzen Jahrzehnt gebildet hat. Eine Essenz. Und mir fiel auf, dass so etwas heute fehlt, gerade in Berlin, was damals von diesen Klängen erfüllt war, die Kraft einer gemeinsamen Musik, eines gemeinsamen Gefühls, das alle teilen.

Freitag, 7. März 2014


11.12.11
Ich bin zu einer Adventsfeier eingeladen, in einer Kreuzköllner WG, mit selbstgemachtem Punsch und Keksen. Gastgeber ist ein Künstler, den ich noch vom Studium her kenne, ein sehr sensibler und begabter Mensch. Eigentlich hat er mit Malerei und Installationen begonnen, jetzt ist er ein Performer, trägt üppigen Vollbart und seit kurzem einen englischen Künstlernamen. Der Punsch ist gut und vernebelt mir angenehm das Hirn. Nachdem dieser, Kekse und Gesprächsthemen sich langsam dem Ende neigen und der Abend schon weit fortgeschritten ist, schlägt der Gastgeber vor, in eine Bar unweit von hier weiterzuziehen. Ich bin dabei, und noch einige andere. Nach kurzem Fußweg durch die Berliner Kälte drängeln wir uns in ein schmales, schlecht beleuchtetes, schlauchförmiges Kneipchen, drinnen geht es lustig zu: laute Musik, lautes Gelächter, Midlifers, die ausgelassen sind. In den Trubel hinein sagt der Künstler einen schönen Satz: „Ich möchte mich nicht mehr von meiner Vergangenheit dominieren lassen.“
Da ist es wieder: Berlin, das Amerika von Deutschland und der Traum, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und völlig neu zu beginnen. Doch ich sehe auch, wie unmöglich es ist: all die Dreißig- und Vierzigjährigen um mich rum, die Kreuzberg-Neukölln-Society, die Künstler und Möchtegerns, wie sie in ihrer ewigen Zwanzigjährigkeit verharren und sich hier verstecken, niemals heraustreten werden aus dem Schatten ihrer Eckkneipenthresen und Biergläser. Ich bin ratlos und etwas verwirrt, denn ich fürchte, dass mir das Selbe passieren könnte. Ich verscheuche den Gedanken und haue mir noch einen Vodka rein. Morgen ist ein neuer Tag. Ein neuer Tag in Berlin.

Donnerstag, 13. Februar 2014


7.2.14
Auf dem Tempelhofer Feld. Die erhoffte Sonne verzieht sich gerade hinter graue Wolken und ein starker, ziemlich kalter Wind zerrt an meinen Haaren. Zwei Gestalten kommen auf mich zu, zwei Frauen, die eine trägt ein Kind im Arm, die andere schiebt einen Kinderwagen vor sich her. Ich kenne sie, es sind Künstlerinnen, Bekannte von früher. Ich überlege schon, ob ich ihnen winken soll, sie kommen näher und erkennen mich nicht. Ich fühle mich seltsam erleichtert. Damals hatten sie große Pläne: sie wollten die Oper von Grund auf erneuern, neu erfinden sozusagen. Sie hatten fantastische Konzepte entworfen und diese bei einem bedeutenden Wettbewerb eingereicht. Nun treffe ich sie hier wieder: die eine ist Mutter und die andere wahrscheinlich die Patentante. Langsam und in einiger Entfernung ziehen sie an mir vorbei, wie zwei Eskimos im Schnee. Ich schaue ihnen noch kurz nach und wende meine Schritte auf die große Landebahn zu.

Samstag, 1. Februar 2014


19.11.11
Konzert mit zeitgenössischer Musik in einer Galerie für zeitgenössische Kunst in der Potsdamer Straße. Vor Beginn des Konzerts kann man die ausgestellten Objekte begutachten: Kabel, Drähte Kopfhörer, Glasscheiben, Lampen. Mit Anfassen. Interaktive Kunst.
Die Musiker spielen in kleiner Besetzung, etwa 30 Zuhörer lauschen aufmerksam. Anschließend unterhalte ich mich mit dem koreanischen Geiger, er erzählt mir von seinen Plänen und Projekten, schlägt schließlich vor, mit den anderen Musikern doch noch was trinken zu gehen. Ich komme gerne mit. Nach einigen Bieren und Falafel an einem Kreuzberger Szeneeck landen wir schließlich in einem Club ohne Namen in Neukölln. Draußen ist es kalt, drinnen ist es voll, Kondenswasser an den Scheiben. Aus den Boxen hämmert Minimaltechno unterlegt mit Tiergeräuschen, einige Mützenträger wippen mit Bierflaschen in der Hand vor dem DJ-Pult. Der Rest der Leute versucht sich schreiend zu unterhalten.
Plötzlich sehe ich ein Gesicht in der Menge, das mir bekannt vorkommt. Tatsächlich. Eine alte Schulkameradin, die ich seit wahrscheinlich 15 Jahren nicht gesehen habe. Sie hat sich eigentlich nicht sehr verändert. Erstaunlich, wen man in Berlin alles wiedertrifft. Ich dränge mich zu ihr durch und klopfe ihr auf die Schulter. Überrascht dreht sie sich zu mir, erkennt mich erst nicht, doch dann hellt sich ihr Gesicht auf und sie umarmt mich unerwartet, wobei ich einen leichten Schweißgeruch an ihr feststelle.
Sie wirkt ziemlich aufgedreht. Schreiend erklärt sie mir, dass sie jetzt ganz groß rauskommen will und dafür schon eine tolle Idee hat: ihre Autobiographie mit dem Titel „Willi Schneemann“. Der Witz dabei: sie schreibt sie im Voraus, mit Ereignissen und Erfolgen, die es noch garnicht gibt, die sie aber sukzessive, gewissermaßen rückwärts, nachliefert. Sie grinst. „Leider muss ich jetzt gehen“, brüllt sie mir ins linke Ohr, „aber ich adde dich bei Facebook.“ Sie umarmt mich nochmal kurz, aber fest und schlängelt sich durch die Menge zum Ausgang.

Samstag, 25. Januar 2014


21.12.13 (3)

Mir ist nicht nach Bier, also lehne ich ab. Er lässt nicht locker: „Komm, das ist ein besonderer Anlass, wer weiß, ob wir uns nochmal wiedertreffen.“ Es fällt mir schwer, seine Einladung abzuweisen, trotzdem verneine ich. „Ok, ok, also ich respektier das. Klar. Aber du bist so ein kontrollierter Typ, vielleicht musst du dich mal lockerer machen.“ Ich muss wieder grinsen. Die Kellnerin bringt mir eine Apfelschorle.
Er nimmt den letzten Schluck aus seinem Glas und wird plötzlich ernst. Seine Stirnfalte tritt jetzt noch deutlicher hervor. „Ich hab ne kleine Tochter, weißt Du, gerade zur Welt gekommen und mir jetzt n kleines Haus in Berlin gekauft. Hätte ich nicht gedacht, dass ich das meinen Kindern und meiner Frau mal bieten kann.“ Er blickt melancholisch zu Boden, mit den Fingern trommelt er auf dem leere Glas. Dann klingelt sein Telefon. „Ja, hallo? Ach Du bists... Nee Mutti, bin gerade im Zug... ja.. zum Dreh... ja... nee, is schlecht jetzt...“ Er legt auf, streckt mir wieder das gesprungene Display entgegen. „Das hier ist meine Tochter. Und das ist mein Haus.“ Ein ziemlich normales Reihenhaus mit rotem Ziegeldach. Der melancholische Ausdruck weicht nicht von seinem Gesicht.
Ich spüre, wie der Zug sich verlangsamt. Der Schaffner macht seine Durchsage. „Musst Du hier auch raus?“ „Ja.“ „Dann steigen wir hier zusammen aus.“ Er packt das Drehbuch in die Reisetasche, bezahlt die Rechnung bei der Kellnerin. „Hast Du noch Münzen für Trinkgeld? Ich hab nur noch n Fuffi.“ Ich lache kurz auf und lege zwei Münzen auf die weiße Tischdecke.
Der Zug hält an, die Türen öffnen sich, wir steigen aus. Er klopft mir zum Abschied auf die Schulter. „Pass gut auf Dich auf, wa?“ Ich muss ein letztes Mal grinsen. Dann verschwindet er in der Menschenmenge.

Mittwoch, 15. Januar 2014


21.12.13 (2)

Vor ihm steht ein halbleeres Bierglas, nicht sein erstes heute, sein Atem riecht stark nach Alkohol. Neben dem Bier auf der weißen Tischdecke liegt ein Drehbuch, darauf der Name eines bekannten deutschen Regisseurs. „Hier schau mal!“ er zieht sein Handy raus und zeigt mir Fotos von Vietnam. „Wie Apokalypse Now, wa?“ lacht er. Hinter dem zersprungenen Display sehe ich braunes Wasser und grünen Urwald, dazwischen einen ausgelatschten Holzsteg. „Das war am Mekong. Ich sag dir, Vietnam is echt krass!“ Er zeigt mir noch weitere Bilder: Gesichter, schwimmenden Plastikmüll, Aufnahmen vom Straßenverkehr in Ha Noi.
„Du bist Schauspieler, oder? Ich kenne Dein Gesicht.“ „ Ja, bin ich. Fahr grad zu Dreharbeiten. Das hier ist mein nächster Film“, er hält mir das Drehbuch entgegen. „Der Regisseur ist geisteskrank, ein Geisteskranker, ständig zugekokst und redet nur Müll. Ich frage ihn: wie soll ich die Rolle anlegen? Und er: jajajajaja. ja. Was soll ich damit anfagen? Mann, Alter, echt!“ er nimmt einen weiteren Schluck aus seinem Glas. „Komm, trink einen mit mir. Ich lad dich ein!“

Freitag, 10. Januar 2014


21.12.13

Im Zugrestaurant.
Ich sitze in den typischen roten Sesseln vor einem Kaffee und einem Stück Kuchen. Keiner unterwegs, nur die Kellnerin huscht ab und zu vorbei. Als ich die letzten Krümel in mich reinschiebe und an meinem Kaffee schlürfe fühle ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter. „Du sitzt hier so alleine, setz dich doch zu mir rüber an den Tisch.“ Überrascht drehe ich mich um. Hinter mir steht ein Typ, um die 30. Ich kenne sein Gesicht, aus dem Fernsehen. Er muss Schauspieler sein.
Schon vorhin fiel er mir auf, weil er in den kurzen Haltepausen des Zuges ständig zum Rauchen rausrannte. Jetzt steht er neben mir und zieht eine tiefe Stirnfalte, die charakteristisch, beinahe unverwechselbar auf seiner Stirn steht. Noch ehe ich etwas erwidern kann fährt er fort: „Ich komme gerade aus Vietnam und in Vietnam redet man miteinander. Ich habe mir vorgenommen, das jetzt nach Deutschland zu importieren.“ Ich muss grinsen. „Ein guter Vorsatz“, sage ich und folge ihm an seinen Tisch.